18.09.2020
Bevölkerung
Wanderungsgeschehen
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Unter den Bevölkerungsstatistiken reagiert die Wanderungsstatistik am sensibelsten auf politische und ökonomische Veränderungen. Der Niedergang der Industrie im Zuge der Wiedervereinigung hat mit der einhergehenden Massenarbeitslosigkeit einschneidende Wanderungsbewegungen in Brandenburg ausgelöst. Wie der gesamte Osten war Brandenburg deutlichen Wanderungsverlusten ausgesetzt.
1991 verließen im Saldo 21 600 Personen das Land. Aber bereits 1992 verzeichnete Brandenburg Wanderungs-gewinne. Dies lag zum einen in der zunächst abgeschwächten Abwanderung in den Westen, aber vor allem an der zügig ansteigenden Zuwanderung aus Berlin in das Berliner Umland, wo sich viele Berliner den Traum vom Eigenheim verwirklichten. 1998 erreichte die Zuzugswelle aus Berlin mit 28 500 Personen im Saldo ihren Höhepunkt. In den folgenden Jahren nahm der Wanderungssaldo aufgrund der wieder anziehenden Abwanderung in das alte Bundesgebiet, der nachlassenden Auslandszuwanderung und der nachlassenden Zuwanderung aus Berlin zügig ab und pendelte zehn Jahre lang um die Nulllinie.
Zu Beginn der 2010er Jahre konnte wieder eine Zunahme des Wanderungsgeschehens beobachtet werden. Die Zuwanderung aus dem Ausland verstärkte sich, fand ihren Höhepunkt 2015 und ist seither wieder rückläufig. Die Abwanderung in den Westen hat sich allmählich in leichte Zuwanderungsgewinne gedreht. Durch leichte Wanderungs-verluste gegenüber den neuen Bundesländern ist der Wanderungssaldo mit dem übrigen Bundes-gebiet ohne Berlin in etwa ausgeglichen. Auch die Zuwanderung aus Berlin erfuhr in den letzten Jahren einen neuerlichen Aufschwung, auch wenn sie mit einem Saldo von 16 700 Personen im Jahr 2019 noch deutlich hinter den Höchstwerten aus den späten 1990er Jahren zurückbleibt. In der Gesamtbetrachtung haben die Wanderungs-ströme die meiste Zeit einen positiven Beitrag zur Bevölkerungsentwicklung des Landes geleistet.
Die Wanderungsgewinne und -verluste verteilen sich sehr ungleich auf das Berliner Umland und den Weiteren Metropolenraum. Während der Wanderungssaldo des Berliner Umlandes mit dem Bundesgebiet aufgrund des starken Zustroms aus Berlin deutlich im positiven Bereich liegt, zeichnet sich für den Weiteren Metropolenraum das markante ostdeutsche Bild der Abwanderung in den Westen. Erst seit 2017 weist der Weitere Metropolenraum Wanderungsgewinne gegenüber dem Bundesgebiet auf. Die Auslandszuwanderung hingegen konzentrierte sich auf den Weiteren Metropolenraum, sowohl in den 1990er Jahren als auch Mitte der 2010er Jahre im Rahmen des Zuzugs im Kontext von Flucht und Asyl. In diesem Zusammenhang ist jedoch auf die zentrale Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Brandenburg in Eisenhüttenstadt hinzuweisen. Die einreisenden Flüchtlinge werden statistisch zuerst dort als Auslandszuwanderung erfasst, anschließend umverteilt und damit als Binnenwanderung in der Statistik ausgewiesen. Dies ist ein Grund dafür, warum die Wanderungsbilanz des Weiteren Metropolenraums gegenüber dem Berliner Umland negativ ist; dies gilt vor allem für die Jahre 2015 und 2016. Aber auch in den vorangegangenen Jahrzehnten zogen mehr Menschen aus dem Weiteren Metropolenraum ins Berliner Umland als umgekehrt. Allerdings weist der Weitere Metropolenraum seit 2017 leichte Wanderungsgewinne gegenüber dem Berliner Umland auf.
In den letzten drei Jahren (2017 bis 2019) konnten hauptsächlich Gemeinden des Berliner Umlandes Wanderungs-gewinne verzeichnen. Am höchsten waren sie in Potsdam (+7 731 Personen), Bernau (+2 840 Personen) und Brandenburg an der Havel (+2023 Personen). Von den 198 kreisfreien Städten, amtsfreien Gemeinden und Ämtern wiesen insgesamt vier Fünftel innerhalb der letzten drei Jahre Wanderungsgewinne auf. 36 von ihnen erlitten Wanderungsverluste. Am größten waren sie in Eisenhüttenstadt (–1 639 Personen), Senftenberg (–271 Personen) und Spremberg (–178 Personen). In Eisenhüttenstadt muss wieder die zentrale Erstaufnahmeeinrichtung berücksichtigt werden. Die Flüchtlinge werden erst zeitverzögert auf die Kommunen im Land verteilt, wodurch die Wanderungsverluste etwas überzeichnet sind.
Die Suburbanisierung Berlins in den 1990er Jahren ist von zwei Gruppen geprägt. Zum einen sind es Personen, die um die 60 Jahre alt waren. Dass sie eine spürbare Rolle im Wanderungsgeschehen spielen ist eher ungewöhnlich, da grundsätzlich der Hauptteil der Wandernden für gewöhnlich zwischen 18 und 40 Jahren alt ist. Die zweite – und bedeutend größere – Gruppe sind die Familien, die ins Umland zogen. Dies ist erkennbar an ausgeprägten Wanderungsgewinnen von Personen zwischen 30 und 40 Jahren und Minderjährigen. Unter Berücksichtigung der in der DDR üblichen – im Vergleich zur BRD – frühen Familiengründung, zogen in den 1990er Jahren hautsächlich Familien ins Berliner Umland, deren Familienplanung bereits abgeschlossen war. In der aktuellen Suburbani-sierungsphase sind die Zuzügler vor allem Familien, die häufig kurz zuvor gegründet wurden. Da sich in den letzten 30 Jahren der Zeitraum der Familiengründung deutlich nach hinten verschoben hat, haben Eltern heute beim Umzug ins Umland in etwa das gleiche Alter wie es Eltern Ende der 1990er Jahre hatten. Eine durchschnittliche Berlinerin war 2019 30,9 Jahre alt (eine durchschnittliche Brandenburgerin: 29,6 Jahre), wenn sie ihr erstes Kind bekam. Daher ist der Wanderungssaldo bei den Klein- und Vorschulkindern höher als bei den Jugendlichen. Im Vergleich zu 1998/99 lag 2018/19 der Wanderungssaldo der Klein- und Vorschulkinder über und der Saldo der Jugendlichen unter den Werten vom Ende der 1990er Jahre. In beiden Phasen gab es jedoch Wanderungsverluste bei den jungen Erwachsenen. Sie begannen vielfach außerhalb Brandenburgs eine Ausbildung, ein Studium oder fanden eine Arbeitsstelle. Ende der 2000er Jahre war die Zuwanderung aus Berlin gering. Entsprechend gering fallen die Wanderungsgewinne in den Altersgruppen aus, die Familien zuzuordnen sind. Umso stärker fiel jedoch die Abwanderung der jungen Bevölkerung ins Gewicht.
Die in der Wanderungsstatistik gemessenen Wanderungsströme sind das Abbild des Migrationsgeschehens. Sie beeinflussen entscheidend die demografische Entwicklung einer Region. Durch die Wiedervereinigung Deutschlands waren für alle Menschen in Deutschland Wohnortwechsel in alle Richtungen möglich. Die Ergebnisse der Wanderungsstatistik gehen in die Fortschreibung des Bevölkerungsstandes ein.
Der Artikel ist Teil der Jubiläumsausgabe „30 Jahre Brandenburg im Spiegel der amtlichen Statistik“ der Zeitschrift für amtliche Statistik Berlin Brandenburg, die im September 2020 erschien.