Wie viele Menschen leben in Berlin? Welche Quelle ist die richtige?
Ein Anliegen, aber mehrere Zahlen in der amtlichen Statistik. Kann das sein? Ja. Und alle Zahlen sind korrekt. Wir klären auf....
Sie sind im WSI, also im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung beschäftigt. Mit welchem konkreten Projekt befassen Sie sich zurzeit?
Ich arbeite derzeit in mehreren Projekten. Zum einen untersuche ich die Umsetzung des Tarifvertrags in der Metallindustrie, der Beschäftigten die Wahloption zwischen mehr Geld, kürzerer Arbeitszeit oder mehr freien Tagen gibt.
Spannend finde ich auch, aus welchen Gründen Heimarbeit von Beschäftigten nicht genutzt wird. Dazu forsche ich zusammen mit Anja Abendroth von der Universität Bielefeld. Wir verwenden Längsschnittdaten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Ein Ergebnis unserer bisherigen Analysen ist, dass Frauen Heimarbeit eher nicht nutzen, weil sie in stärkerem Maße als Männer dadurch Karrierenachteile befürchten. Dieser Befund bestätigt bisherige Forschungsergebnisse, dass Führungskräfte Frauen oftmals nicht zutrauen, flexible Arbeitsformen für betriebliche Belange zu nutzen.
Ein weiteres Projekt bearbeite ich gemeinsam mit Anne Wöhrmann von
der Bundesagentur für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Uns interessiert die dienstliche Erreichbarkeit außerhalb der Arbeitszeiten, also das Beantworten von dienstlichen
E-Mails oder dienstlichen Telefonaten in der Freizeit. Wir wollen herausfinden, ob eine Erreichbarkeit in der Freizeit Effekte nicht nur auf die eigene Zufriedenheit mit der
Work-Life-Balance hat, sondern auch auf die des Partners. Bisher haben wir hier analog zu ähnlichen Studien keinen Geschlechterunterschied entdeckt – es scheint für beide Geschlechter gleich belastend zu sein, wenn der Partner oder die Partnerin abends noch dienstliche E-Mails beantworten muss.
In welchen Bereichen hat sich die Ungleichheit der Geschlechter in den letzten Jahren reduziert? Wo gibt es immer noch Unterschiede zwischen den Geschlechtern?
Das WSI veröffentlich mit dem GenderDatenPortal Zahlen und Fakten zum Thema Arbeitsmarktungleichheit von Frauen und Männern, aber auch Daten zur Aufteilung von Sorgearbeit und der Inanspruchnahme von Elterngeld. Wir sehen auf der einen Seite, dass die Arbeitsmarktpartizipation von Frauen in den letzten Jahren zugenommen hat. Bei ausschließlicher Betrachtung der Erwerbstätigenquoten gibt es also weniger Ungleichheit zwischen den Geschlechtern als vor zehn oder zwanzig Jahren. Allerdings findet die Erwerbstätigkeit bei Frauen vielfach als Teilzeittätigkeit statt, wodurch sich immer noch ein deutlicher Einkommensabstand zwischen Männern und Frauen ergibt. Ungleichheiten im Arbeitsmarkt sind also nach wie vor gegeben, ebenso wie Ungleichheiten in der Verteilung von unbezahlter Arbeit wie Hausarbeit und Kinderbetreuung. Frauen stemmen immer noch den Löwenanteil an diesen Tätigkeiten.
Welche Bedeutung hat das Thema „Ungleichheit der Geschlechter“ auf europäischer Ebene?
Ich arbeite vor allem zu Arbeitszeiten und Fragen der Work-Life-Balance. Hier hat die EU-Kommission eine Direktive zur Verbesserung der Work-Life-Balance vorgelegt, in der gefordert wird, auf europäischer Ebene die Arbeits- und Lebensqualität für alle Beschäftigten zu erhöhen und damit für mehr Gleichheit zwischen den Geschlechtern zu sorgen. Männer arbeiten üblicherweise länger, machen eher Überstunden und stecken im Job weniger zurück. Frauen leisten wiederum immer noch deutlich mehr Sorgearbeit neben ihrer Teil- oder Vollzeitarbeit und müssen mit dieser Doppelbelastung fertig werden. Eine Maßnahme für eine gute Work-Life-Balance und mehr Geschlechtergerechtigkeit wäre, das Arbeitspensum für beide Geschlechter zu senken. Eine Entlastung durch kürzere Arbeitszeiten könnte mehr zeitliche Spielräume zu Hause schaffen, die beispielsweise eine verstärkte Teilnahme von Frauen an der Erwerbstätigkeit zur Folge haben könnten.
Haben Sie im Rahmen Ihrer Forschung auch geschlechterbezogene Unterschiede zwischen den Bundesländern untersucht? Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?
Mein Kollege Malte Lübker hat dazu Daten des WSI Lohnspiegels ausgewertet. Der Gender Pay Gap ist tatsächlich im Süden Deutschlands am größten; in Brandenburg ist er am geringsten. Erklärt werden kann dies vor allem durch die Löhne der Männer, die gerade im Süden in den Automobil- und Industriebranchen und bei deren Zulieferern relativ hoch sind. Daher ist der Verdienstabstand zwischen Männern und Frauen dort sehr groß, während in Ostdeutschland die Männer einfach nicht so gut verdienen. Der geringere Gender Pay Gap in Ostdeutschland spiegelt also mehr die allgemeine wirtschaftliche Lage der Region.
Welche Datenquellen stehen Ihnen für Ihre Analysen zur Verfügung? Welchen Stellenwert nehmen die Daten der amtlichen Statistik bei Ihren Forschungen ein?
Bisher habe ich in erster Linie das Sozio-oekonomische Panel des DIW Berlin und den European Working Conditions Survey, eine Erhebung über die Arbeitsbedingungen in Europa, genutzt. Aktuell arbeite ich mit dem Linked Personnel Panel des IAB.
Ich benötige detaillierte Informationen auf Individualebene: über den Haushaltskontext von Beschäftigen und ihre Arbeitsmarktsituation bzw. Arbeitsbedingungen. Ich forsche viel zu flexiblen Arbeitsarrangements, dafür brauche ich Informationen, die ich in den oben genannten Datenquellen finde. Das Linked Personnel Panel bietet beispielsweise nicht nur Informationen über die Beschäftigen selbst, sondern auch Betriebsinformationen, was mir bei meinen Studien sehr weiterhilft.
Für das WSI GenderDatenPortal nutzen wir Daten der amtlichen Statistik wie den Mikrozensus, etwa für Abbildungen der Erwerbsquoten und des Gender Pay Gaps. Für meine Arbeit ist es wichtig, einzelne Personen längerfristig zu beobachten, um konkrete Veränderungen in der Zeit messen zu können. Daher bin ich für meine Forschung unbedingt auf Panelstudien angewiesen.
Seit Kurzem wird die Thematik zum sogenannten dritten Geschlecht immer mehr in der Öffentlichkeit diskutiert und hat mittlerweile auch die amtliche Statistik erreicht. Welche Bedeutung messen Sie dieser „Kategorie“ bei und wie intensiv müsste diese zukünftig bei Auswertungen berücksichtigt werden?
Zunächst einmal ist es zu begrüßen, die Dichotomisierung Mann–Frau aufzubrechen, weil sich in der Tat nicht alle Menschen in der einen oder anderen Kategorie wiederfinden. Insofern ist eine dritte Option „divers“ ein wichtiger Schritt für die Anerkennung von verschiedenen Gender-Identitäten.
Wenn das Merkmal in der amtlichen Statistik erhoben wird, gäbe es eine offizielle dritte Kategorie, die dann möglicherweise auch für die sozialwissenschaftliche Forschung zur Verfügung steht. Es gibt mittlerweile immer mehr Forschung zu LGBTQ¹. Eine Kategorie wie „divers“ könnte helfen, nicht nur in erster Linie qualitative Forschungsprojekte in diesem Bereich zu betreiben, sondern auch repräsentative Survey-Daten auszuwerten. Dies würde die Sichtbarkeit von LGBTQ sowohl in der Forschung als auch in der Politik und Öffentlichkeit erhöhen.
Könnte das Thema „Ungleichheit der Geschlechter“ in absehbarer Zeit an Bedeutung verlieren oder werden sich inhaltliche Schwerpunkte verändern? Wenn ja, in welche Richtung?
Ich denke, solange es Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen gibt, solange werden wir auch über dieses Thema sprechen müssen. Gerade die populistischen Parteien, sowohl in Deutschland als auch in Europa, äußern verstärkt Forderungen zugunsten einer Rückkehr zu traditionelleren Geschlechterrollen.
Auch die kürzlich geführte Debatte um den Paragrafen 219a Strafgesetzbuch und grundsätzlich um das Abtreibungsrecht zeigt, dass zurzeit an Dingen gerüttelt wird, die in der Vergangenheit bereits erreicht wurden und zu mehr Gleichheit der Geschlechter, aber auch für Gleichberechtigung von Frauen gesorgt haben. Hier gilt es wachsam zu sein.
Gerade aus diesem Grund ist es auch zukünftig wichtig, sich die verschiedensten gesellschaftlichen Entwicklungen immer vor dem Hintergrund ihrer Bedeutung für soziale, aber insbesondere auch für Geschlechterungleichheit anzuschauen.
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